Königreich Van-Duhm
7. März 2792
Valerian stand hinter dem grossen, schweren, roten Vorgang. Er atmete einmal ein und aus. Hinter ihm erklang das langsam ruhiger werdende Treiben seiner Schauspieler und des Bühnenpersonals. Von hinter dem Vorhang drang der vertraut Klang des unruhigen Publikums. Er hatte immer noch Lampenfieber. Nach all den Jahren. Einatmen. Ausatmen. Er klappte den kleinen roten Stofffetzen hoch, der von hinten an den Vorhang genäht ist und näherte sich dem Loch im Vorhang, das er verborgen hat. Sein Blick fiel in den Zuschauerraum des Amphietheaters. Er liebt dieses Blick. Das Beobachten, ohne gesehen zu werden. Die Anmutung des gewaltigen Halbrunds. Rechts und Links neben der Bühne stehen zwei gewaltigen Statuen. Sie sind abstrakt gehalten und Valerian weiss aus Erfahrung, dass ihre gewaltige Präsenz verschwindet sobald nur noch die Bühne beleutet ist. Im Sternenlicht der warmen Sommernacht glitzern die silbernen Intarsien und Muster, die in sie eingelassen sind. Valerian hat das immer als gutes Zeichen gesehen und fragt sich einen Moment, warum er nicht schon eher ein Stück über diese Figuren geschrieben hat. Aber nun ist es ja geschrieben und heute Abend wird die Premiere sein. Er atmet aus und ist für einen Moment wirklich glücklich und entspannt.
Dann wander sein Blick über das Publikum. Das Theater ist gut gefüllt. Die Stimmung ist gut. Er hat inzwischen ein untrügliches Gespür dafür. Heiter, aber nicht so launig, wie vor einer Komödie. Gespannt, aber nicht so ernst wie vor einer der grossen Tragödien. Gehoben, aber nicht so elitär wie bei den langen Adlesstücken. Und das, obwohl der König anwesend ist. Sein Vater. Er kann ihn seinem Sitz sehen. Und in dem Moment treffen sich ihre Blicke. Ein wissendes Lächeln huscht über das Gesicht von König Dorum und Valerian sieht in seinen Augen einen Spiegel jener tiefen, bedingungslosen Liebe, die er selbst für seinen Vater empfindet. Und er strahlt breit hinter dem Vorhang. „Dann jetzt.“ denkt er bei sich.
Prinz Valerian Schwertblatt fährt sich mit den Händen über seine Hörner. Er schliesst das Guckloch und seine Hufe klackern auf den Brettern der Bühe als er sich zur Seite gibt, wo seine Regie-Assistenten und die Inszentierungmeisterin stehen. Er ist selbst für einen Boviden hochgewachsen, aber erheblich schlanker als viele, insbesondere als sein Vater. „Spindeldürr“, pflegte seine Mutter immer zu sagen. Er wusste immer, dass er nicht zum Kampf geeignet ist, nicht zu fordernden körperlichen Arbeit, die viele Boviden erfüllt. Aber er hatte ein starkes Herz und das führte ihn schon ans Theater. Er liebte immer ohne Zurückhaltung, ohne Rücksicht auf sich selbst, ohne Maß. Und er liebte es, diese Liebe weiterzugeben, die Schönheit und Macht der Liebe weiterzugeben. Das Theater erschien ihm schon als Kind genau der richtige Ort dafür. Die Menschen weinten und lachten, sie fieberten mit und wurden bewegt, im besten Fall tief in ihren Herzen. Seine Eltern hatten früh erkannt, dass sie sich für einen Thronfolger keinen besseren Charakter hätten wünschen, auch wenn Valerian die klassischen Stärken fehlten, die das Volk und die Adligen in einem Regenten suchten. Aber sich waren sich früh einig gewesen, dass es vielleicht einfach an der Zeit war für das Volk und die Adligen, ihre Ansichten über Regenten zu ändern. Und wer sollte eine solche Veränderung anstossen, wenn nicht wir?! Hatten sie sich gesagt. Valerian hatten sie in ihre Überlegungen nicht eingeschlossen. Sie liessen ihn einfach seinem Herzen folgen. Und sie taten gut daran, wie sich in den folgenden Jahren zeigte.
Aussenstehende behaupteten gerne, der junge Prinz hätte ein Talent, die richtigen Geschichten zu erzählen. Aber Valerians Eltern wussten es besser. Sein einziges Talent, war sein grossen Herz. Alles andere war auch für einen Prinzen harte Arbeit. Und nur wenige sahen, wie hart Valerian an seinen Stücken, seinen Choreographien, seinen Kompositionen arbeitet. Immer und immer wieder. Von Freunden und Mentoren forderte Valerian schon früh unnachgiebig Kritik. Er wusste, wohin er wollte und er kannte den Weg dahin: Übung, Revision, Iteration, immer und immer wieder. Aber in der Tat hatten gerade die letzten zwei Jahre gezeigt, dass sich seine harte Arbeit lohnt. Nach der Aufführung der Liebestragödie Roraro und Daria hatte Valerian ins Publikum geblickt und die Oberhäuter der beiden verfeindeten Adelshäuser der Kantarii und Bolorus mit Tränen in den Augen gesehen und gewusst, was folgen würde: Über den Verlauf von 6 Monaten hinweg hatte sich beiden Häuser angenähert und schliesslich die 3 Generationen anhaltende Fehde begraben. In der Nacht, nachdem der Friedenvertrag unterschrieben war, war sein Vater in sein Gemach gekommen und brach fast umgehend in einen Strom von Tränen aus, kaum, das die Tür geschlossen worden war. Valerian wusste, dass sein Vater jahrelang versucht hatte, die Fehde beizulegen, aber all seine diplomatische Raffinesse, all sein Werben und Drohen an den steinernen Herzen der Kantarii und Bolorus abgeprallt war. Sie hatten in der Nacht nicht mehr viel geredet. Es gab nicht viel zu bereden. Stolz und Erleichterung flossen ebenso sichtbar aus König Dorum heraus, wie die Tränen. Und so war es weitergangen. Valerian schrieb Stück und sie veränderten etwas; das Königreich, die Menschen, die Okanea, die Welt auf der sie lebten. Mal weniger, mal mehr. Mal weniger sichtbar und langsam, mal auf einen Schlag.
„Dann heute also Die Wächter„, dachte Valerian. In den letzten Jahren hatte Valerian die eigenen Ziele und Ansprüche immer weiter angehoben. Künstlerisch, handwerklich, politisch und seelisch. Die Wächter sollte mit dieser Entwicklung brechen. Es wäre falsch gewesen zu behaupten, dass Valerian eine Auszeit brauchte. Er war schlicht nicht glücklich, wenn er nicht an einem neuen Stück einer neuen Inszenierung arbeiten konnte. Aber er hatte im letzten Jahr gemerkt, dass er Fragen in sich trug, die nach Antworten suchten. Fragen auf die er vermutlich keine Antwort bekommen würde. Aber Fragen, denen er nichts desto trotz nachgeben musste. Der Mechanismus des Fragenstellens, die Reise, die die Suche nach Antworten ist, sollte Thema seines neuen Stückes werden. Die steinernen Wächter hier im Amphitheater waren schon immer an diesem Ort. Nieman kann sich an ihren Ursprung erinnern und Valerian hat das fasziniert, seit er seine Mutter das erste Mal fragte, was die Fiugren darstellen sollen. Wer hat diese gewaltigen Wächter geschaffen und was mag die Gedankewelt ihrer Schöpfer beflügelt haben? Wir werden es nicht erfahren. Wie so vieles. Und Leben bedeutete eben, aus fehlenden Antworten einen Sinn zu formen. Und das sollte heute Abend passieren. Er blickte zur Regie-Assitenten und zum Inszenierungsmeisterin. Beide nicken. Dann nickt Valerian und der Vorhang wird zur Seite gezogen, gibt dem Publikum den Blick auf die erste Szene frei und das Spiel nimmt seinen Lauf unter dem Licht der Sterne …
Eine Stunde später steht Valerian immer noch am gleichen Platz, gerade neben der Bühne, nur so eben und eben ausserhalb des Publikums und beobachtet, wie sich die Geschichte entfaltet und das Ensemble reibungslos im Spiel aufgeht. Gleich kommt Anadalias grosser Monolog. Sie sitzt alleine auf der Bühne, auf einem hölzernen Felsen und blickt über ein nächtliches Meer, dass nur in ihren Worten und der Vorstellungskraft des Publikums existiert.
„Hier am Strand sitze ich und beobachte das Spiel der Elemente.
Wasser schlägt auf Stein, gibt ihm Form, nimmt und gibt.
Er trotz der Brandung und doch ist ein Schicksal schon bestimmt.
Im Äonenglanz der Sterne ist ihr Weg bestimmt.
Doch wir sehen nur einen Teil des Reigen, während wir zwischen ihnen tanzen.
Wir sind nicht Wasser, noch Stein, noch Stern, noch Licht.
Wir sind ganz Herz.
Von Wasser und Licht umspielt.
Herz an Stein und Stein an Herz.“
Bei den letzten Worten setzt eine Veränderung in der Szene ein, die Valerian sofort spürt. Die silbernen Muster der Wächter neben der Bühne beginnen in einem hellen Grün zu leuchten. Kaum merklich. Die ist kein geplanter Bühneneffekt. Valerian wüsste nicht einmal, wie man soetwas erreichen sollte, selbst wenn man wollte. Es ist wunderschön, aber Valerian weiss intuitiv, dass etwas Ungeplantes im Begriff ist zu geschehen. Er schaut die Inszenierungmeisterin an, der das Leuchten ebenfalls bereits aufgefallen ist. Sie blickt fast entsetzt. Und als Valerian sie fragend anblickt, schüttelt sie nur den Kopf. Publikum und Ensemble scheinen das Leuchten noch nicht wirklich bemerkt zu haben. Doch nun wird es stärker, kräftiger, wie eine leuchtende Strömung, die durch die Steine fliesst. Und jetzt setzt auch Gemurmel im Publikim ein. Anadalias setzt ihren Monolog unbeirrt weiter fort. Sie ist ein wahrer Profi.
„Herz an Stein und Stein an Herz.„
Dann hallt ein Krachen durch das Amphitheater. Und von beiden Statuen fallen kleine Steine und Moose herab. Valerians Herz beginnt wie wild zu schlagen. Er fühlt sich, wie im Traum, wie in eines seiner Stücke versetzt. Ihn durchdringt eine fremdes Gefühle, dass nun alles möglich ist, dass die Grenzen von Wirklichkeit und Fiktion durchbrochen sind. Und Angst und Euphorie rasen in gleichen Teilen durch seinen Geist, seinen Körper. Dann heben beide Statuen völlig synchron ihre zuvor leicht gesenkten Köpfe und wenden sie in Richtung Anadalia. Im Publikum ertönen erstaunte Schreie. Für einen Moment fürchtet Valerian, dass gleich eine Panik einsetzt, aber nichts geschieht. Doch Valerian sieht, deutlich, dass die Wächter seines Vaters ihre Speere mit grösserer Konzentration halten. Für einen Moment gewinnt die Angst in ihm Überhand und er ist schon fast im Begriff, Anadalias von der Bühne zu holen, die jetzt ganz unverkennbar von den Statuen angeblickt wird. Aber die Inszenierungsmeisterin legt ihm seine Hand auf den Arm und Valerian hällt innen während Anadalias ihren Monolog beendet, nicht eine Nuance anders als in der Generalprobe.
„Wird dieses Herz je zu Stein? Schlägt in diesem Stein ein Herz?“
Dann blickt sie zu den Sternen über ihr, der Vorhang fällt und nimmt Valerian die Blick auf die Wächter. Tosender Applaus setzt ein, in den sich umgehend ein anderes Geräusch mischt. Wie die Schritte mythischer Riesen. Wie eine Lawine.
In Publikum wendet sich Torn zu ihrer Begleiterin Arlind, als sich die gewaltigen Statuen in Bewegung setzen und behutsam vor der ersten Reihe direkt vor die Bühne laufen und dort wieder erstarren. „Diesmal hat sich der Prinz wirklich selbst übertroffen“, sagt Torn, halb begeistert, halb skeptisch. „Hm-hm.“ antwortet Arlind. Dann schreiten beide Statuen synchron mit einem einzigen grossen Schritt auf die Bühne. Holz splittert unter dem Gewicht der vier Meter hohen, steinernen Giganten und Torn bemerkt erst jetzt, dass Arlinds Hand längst Griff ihres Kurzschwertes lag. „Nicht gut.“ sagt Torn, während ihre langen Hasir-Ohren, die zuvor ordentlich zusammengebunden herab lagen, um niemanden den Blick zu verderben, nun in grosser Achtsamkeit aufschwingen. „Wir sollten nach Valerian sehen.“ sagt sie noch im Aufstehen. Doch als sie sich zu Arlind umsieht, springt diese bereits mit einem gewaltigen Satz an ihr vorbei in Richtung Bühne, derweil das Publikum inzwischen in die entgegensetzte Richtung flieht. „Schön, dass wir mal wieder einer Meinung sind“ lässt Torn noch fallen, wohl wissend, dass ihre Freundin ihr nicht mehr zuhört. Dann sieht sie, wie eine Gestalt hinter dem Vorhang hervortritt. „Er wird doch nicht …“ murmelt sie zu sich selbst, während sie in grossen Sätzen über die Sitzreihen zu Bühne hastet. Dann stellt sich Valerian direkt in den Weg der beiden wandelnden Statue, reisst seine Arme hoch und beginnt noch einmal den eben verklungenen Monolog zu deklamieren. „Natürlich wird der doch.“, denkt Torn und sieht vor ihrem geistigen Auge ihren Freund schon unter einem gewaltigen Bein zermalmt oder von einer steinernen Hand zerquetscht. Gerade als sie – kurz nach Arlind – die Bühne erreicht, halten die beiden Kolosse tatsächlich inne und senken ihren Blick herab zu Valerian. Arlind die gerade noch im vollen Lauf war, fällt nun in einen vorsichtigen Schritt und bewegt sich in einem Bogen um die Statue herum auf Valerian zu. Torn tut – aus der Gewohnheit vieler gemeinsamer Kämpfe heraus – genau das Gleiche, nur auf der anderen Seite. Valerian verstummt, als sich Torn und Arlind ihm nähern. Die beiden Kämpferinnen behalten die kolossalen Statuen misstrauisch im Blick.
„Was ist hier passiert, geliebter Prinz?“ wendet sich Torn an Valerian. Der antwortet zunächst nicht, sondern starrt nur die Statuen an, Erstaunen und Begeisterung im Blick. „Ich weiss es nicht, meine liebe Torn. Aber ich werde es herausbekommen.“ Torn blickt zu Arlind herüber, welche die Augen verdreht. „Vielleicht gibt es doch Antworten auf alle Fragen …“, murmelt Valerian zu sich selbst und wendet nun selber den Blick von den Statue ab, zuerst zu seinen Freundinnen, dann hinauf zu den Sternen.
Das Erwachen der Wächter markiert gemeinsam mit der Entdeckung des Südkontinentes und der damit verbundenen Schrecken, den Übergang zu einer neuen Epoche, die wir heute „die Moderne“ nennen. Ironischer Weise haben uns beide Ereignisse mehr über die Vergangenheit unserer Welt erzählt als über unsere Zukunft. Aber es war ein überaus schmerzhafter Lernprozess, der uns bis zu diesem Punkt geführt hat, an dem wir jetzt stehen. Allerdings hätten wir im Angesicht eines Kontinentes und im Angesicht wandelnder Giganten aus Stein vielleicht etwas her auf die Idee kommen können, dass keine leichten Zeiten vor uns liegen.
Aus der Enzyklopädia Okanea Luminor, zweite Ausgbe 2817 nach der Gründung von Dun Hal
Alle 4 Beiträge der Serie 'Buch I'
- Buch I – 1. Kapitel – Prolog
- Buch I – 2. Kapitel – Das Herz eines Königs
- Buch I – 3. Kapitel – Die Wächter
- Buch I – 4. Kapitel – Nackter Fels
Ein Gedanke zu „Buch I – 3. Kapitel – Die Wächter“