Buch I – 4. Kapitel – Nackter Fels

Südmeer nahe den 40ten Breitengrades,
8. März 2792

Florianne stand allein an der Rehling der Basaltwelle, dicht am Vorsteven. Die Gischt schlug hoch, glitzerte in der Morgensonne wie weisse, blaue, türkisene Edelstein und schlug ihr immer wieder ins Gesicht. Mit ungerührter Miene blickte sie zum fernen Horizont, der aus nichts als Wasser und Wellen und Wolken bestand. Ihr dichtes Fell war schon ganz nass. Sie waren in den tiefen südlichen Breiten und bildete sich schon Eis an Deck. Aber falls Florianne fror, liess sie es sich nicht anmerken. Sie hatte die Statur, die ihr Vater einst gehabt hatte – für eine Murinir kräftig und stämmig, aber mit den aufmerksamen tiefschwarzen Knopfaugen, die alle Murinir kennzeichnet. Ihr Ohren waren allerdings kleiner als bei vielen anderen, was ihrem Kopf kantig und wuchtig wirken liess und ihr Entschlossenheit und zu weilen sogar Bedrohlichkeit verlieh.

Wieder schlug das Schiff tief in eine Welle. Der Wind liess die Takelage singen und das Schiff stampfte und ächzte. „Euer Majestät warten darauf, dass wir die Insel Jubani erreichen.“ erklang der tiefe Bass von Titus Limunor. Der blau-türkisene Lacertil war einer der grössten Namensgeber in ganz Dun Hal. Er überragte Florianne fast um mehr als das Doppelte. Und doch war er fast geräuschlos hinter Florianne erschienen. Er verfügt über einiges an Körperbeherrschung, dafür, dass er eigentlich ein Akademiker war. Aber das war Florianne nicht neu. Er war nicht nur Dekan der Universtät von Dun Hal, sondern auch ihr Mentor, Lehrmeister und Trainer seit sie denken konnte. Lumnior hatte keine Frage gestellt und also antwortete Florianne nicht. „Die südlichste, noch bewohnte Insel, Titus.“, sagte Florianne ohne den Blick vom Horizont zu nehmen. „Die Wolken dort vorne. Wie sie sich nach türmen und reissen. Darunter liegt Jubani“, fuhr sie fort. „Ihr habt viel von Kapitänin Goldlocke gelernt. Wie ich gehofft hatte. Sehr gut.“ Sie waren eigentlich schon lange über den Punkt hinaus, an dem Titus ihr noch wirklich etwas hätte beibringen können, aber selbst für Titus, der erheblich älter war als Florianne, war die Zeit, die er mit der Ausbildung der Thronfolgerin von Dun Hal verbracht hatte, so lang, dass sich ihre Wortwechsel und Beziehung zueinander eingeschliffen hatte. Sie würde immer seine Schülerin bleiben und er immer ihr Lehrmeister.

„Wenn wir den letzten Monolithen errichten haben, sind wir in der Lage Nachrichten über fast die Hälfte unserer Welt zu versenden und zu empfangen, in nur wenigen Stunden. Der Anbeginn eines neuen Zeitalters.“ sagte Florianne, mehr zu sich selbst, als zu Titus, „Und dann kehren wir Heim, dann ist meine Ausbildung abgeschlossen“, fuhr sie fort. „Dann erwartet euch der Thron, eure Majestät.“ antwortete Titur Luminor, ohne gefragt worden zu sein. Florianne blickte zu Titus auf: „Ich bin bereit. Ich bin bereit für die Bürde, die mich erwartet.“ und in ihrem Blick lagen sowohl Trotz, Stolz als auch Angst. „Ja, ich weiss, Florianne Nikea Tiefenrune, erste ihres Namens, einziges Kind unseres Königs Arlamerian dem III.“, log Titus Pergamon Luminor, Dekan der Universität von Dun Hal, Universalgelehrter, königlicher Mentor, hellstes Licht der Aufklärung.

„Land in Sicht!“, rief in diesem Moment der Ausguck aus dem Mast. Florianne schloss die Augen, atmete ein und aus und ging dann zum Achterdeck und sagte „Kommt, Titus, leisten wir Jorun Gesellschaft in diesem Moment“. „Sehr gerne.“ antwortet dieser und drehte seinen mächtigen Leib, dabei sorfältig darauf bedacht, stets eine Hand an einer Leine oder der Rehling zu behalten.

Vier Stunden später lagen sie vor Jubani vor Anker. Die Basaltwelle hatte ihre beiden Anker geworfen. Und ihr begleitendes Luftschiff, die Wolkenstein wurde nun langsam mit mächtigen Tauen und einer noch mächtigeren Winde herabgezogen. Florianne konnte die Schritte der Mannschaft hören, die die Winde bediente. Aber heute erklangen dabei nicht die üblichen Gesänge. Die Stimmung war gedrückt. Schon aus der Ferne war der Anblick der Insel allen seltsam vorgekommen, aber zuerst konnte niemand genau sagen warum. Erst als sie näher kamen erkannte sie es: Hier in den tiefen südlichen Breiten, nahe dem Pol war Vegetation von Natur aus spärlich. Aber etwas Grün wuchs auf praktische allem, das eine Weile über die Wasseroberfläche ragte. Und die Sielder und Forscher hier auf Jubani hatten sich schon vor Jahrzehnten die Mühe, gemacht, geschützt Haine anzulegen, um irgendwann in der Lage zu sein, Holz zu gewinnen. Aber die Insel wirkte völlig grau, nicht ein Baum war zu sehen. Und als sie schliesslich in jener Bucht im Westen der Insel vor Anker gingen, die einst der Hafen von Jubani war, ergriff alle eine furchtbare Niedergeschlagenheit. Das kleine Dorf, das denselben Namen wie die Insel trug war ebenso fort, wie fast alles andere auf der Insel. Nur ein paar steinerne Fundamente von Häusern, die aus Felsen gebaute Kaimauer und Sockel des Leuchtfeuers waren noch erhalten. Einzelne Schornsteine ragten wie abgebrannte Baumstümpfe in die Landschaft empor. Von den Bewohnern oder ihren Schiffen oder irgendwelchem Leben auf der Insel, fehlte jede Spur.

Kapitänin Jorun Goldlocke liess eine Landungsmannschaft zusammenstellen, noch bevor die beiden Schiffe richtig vertäut waren. Titus wusste, dass sich Florianne nicht davon abhalten lassen würde, die Landungsmannschaft zu begleiten, also versucht er gar nicht erst, sie davon abzuhalten. Abgesehen davon wollte er selbst aus erster Hand erfahren, was hier geschehen war. Denn dies war die Frage, die sich alle an Bord stellten. Was konnte hier geschehen sein? Von Bord aus konnte man keine Brandspuren entdecken und selbst, wenn die Bewohner die Insel aufgeben hatten, wieso hätten sie jedes Gramm Holz und jeden Grasshalm mitnehmen sollen, und überhaupt sollte das möglich sein?

So sass der gewaltige Lacertil entgegen seiner Abneigung für kleine Boote hinter der Thronfolgerin im kleinen Kutter, zusammen mit einem Dutzend Seesoldat.inne und einem halben Dutzend Matrosinnen, die sie zum Kai ruderten. Alle schwiegen bis auf die nötigsten Kommandos. Alle waren wachsam. Was immer hier geschehen war, es war in einem Ausmass verheerend, von dem sich niemand wirklich ein Bild machen konnte. Und nichts fürchten wir Namensgeber mehr, als das Unbekannte, dachte Titus Luminor bei sich selbst. Er war überzeugt, dass es hierfür eine rationale Erklärung geben würde. Wohlmöglich eine, die nicht allen gefiel, aber doch immerhin würde sie allen die abergläubische Angst nehmen.

Als sie sich dem Kai näherten brach Florianne zuerst das Schweigen. Zurückhaltung hatte nie zu ihren Stärken gehört. „Seht dort, an der Kaimauer, die Kerben! Als wäre etwas gewaltiges, oder schweres die Mauer herauf oder herabgescharbt worden.“ Sie hatte recht. Und als sie an Land gegangen waren, fanden Sie überall auf der Insel Kerben und Scharten, Rissen und Rillen im Stein, als hätte ein Titan aus den Sagen mit einer gewaltigen Schwert auf die Insel eingedroschen. Was sie nicht fanden waren irgendwelche anderen brauchbaren Hinweise darauf, was hier geschehen war. Und was ist ebenfalls nicht fanden, waren Überleben. Oder auch nur etwas Überlebendes. Kein Grasshalm, kein Vogel, keine Alge, kein Splitter Holz war auf der Insel mehr zu finden. Jubani war nur noch nackter Fels. Selbst der Süsswassersee im Osten der Insel war auf unerklärliche Weise entleert worden. Niedergeschlagen verliessen sie die Insel wieder, ohne Antworten dafür aber mit reichlich Sorgen.

Kapitänin Jorun lud umgehend ihren Führungsstab, Florianne Tiefenrune und Titus Luminor in ihre Kajüte. „Uns fehlen praktisch alle Anhaltspunkte, um plausibel zu rekonstruieren, was hier vor sich gegangen ist. Die letzten Nachrichten von Jubani, von denne wir wissen, sind zwei Jahre alt und klangen hoffnungsfroh. Wir wissen nicht, ob das Verhängniss, dass über die Insel kam schnell oder langsam von statten ging, ob noch jemand fliehen konnte, oder ob alle Seelen verloren sind. Wir wissen nicht, ob ein fremde Macht, eine Kraft von Aussen hier am Werke war, oder ob sich die Bevölkerung unwissend selbst in Unheil begab …“, begann Titus Luminor, der seine Gedanken offensichtlich noch weiter ausführen wollte, aber von Florianne unterbrochen wurde. „Für mich sieht das wie ein Angriff aus.“, stellte sie mit klarer Stimme und ein wenig lauter als nötig fest und fuhr umgehend fort, „Das ist genau die Art von Schandtat, vor denen die Thyrianer nicht zurückschrecken würden.“ Titus blickt Kapitätnin Jorun an, die sofort ahnte, was der grosse Lacertil von ihr erwartet. „Eure Majestät, …“, begann sie umgehend, „… die Thyrianer befanden sich unter schwerer Bedrängniss durch Generalin vander Lark, als wir Dun Hal verliessen. Vermutlich haben sie bereits kapituliert. So oder so, sie haben alle Truppen nach Thyria zurückbeordert, um die Hauptstadt zu verteidigen. Und nach allem, was wir wissen, meiden sie die tiefen südlichen Breiten.“ In ihrem letzten Satz schwang die Autoritär eines Lebens auf See und der Kapitänin mit. Jorun war eine Castori. Grösser und einem tieferen Schwerpunkt, als die Murinir. Dafür hatte sie dichteres Fell, das selbst Tauchgänge in eisigem Wasser für eine ganze Weile erlaubte und ihr kräftiger, flacher Schwanz half nicht nur beim Schwimmen, sondern half ihr an Bord schwankender Schiffe auch, fast jederzeit die Balance zu wahren. Titus schloss direkt an Joruns Satz an „Und es erklärt nicht, warum jede Spur von Leben von der Insel verschwunden ist. Selbst wenn die Thyrianer die Möglichkeit dazu hätte … welche Interesse sollten sie daran haben?“ Diese Frage hatten sich alle hier bereits gestellt … Wie und vor allem warum sollte jemand das getan haben?

Florianne erkannte, dass sie diesen Argumentationsstrang verloren hatte und wechselte mühelos die Perspektive. „Was unternehmen wir jetzt?“, fragte sie in die Runde. Titus war ein klein wenig stolz darauf, wie schnell sie zu ihren Stärken zurückfand. „Wir richten den Monolithen auf, wie geplant und nehmen mit seiner Hilfe Kontakt mit den Falkeninseln auf. Sie sind der nächste Monolith von hier aus. Vielleicht sind dort Flüchtlinge angekommen.“, schlug Titus Luminor vor. „Warum sollten wir auf einer verlassenen Insel einen telemagischen Monolithen aufstellen? Niemand kann ihn je wieder benutzen und wir könnten ihn anderswo wohlmöglich besser gebrauchen. Ausserdem nehmen wir uns so die Chance auf dem Heimweg schneller zu kommunizieren, falls wir unterwegs heraufinden, was hier geschehen ist.“ Luminor staunte ein weiteres mal über Floriannes strategisches Geschick. Es war die Art von Entscheidung, die eine gute Befehlshaberin getroffen hätten. „Aber wir sollten auch die Falkeninseln warnen. Und … die Siedler und Forscher hier stammten alle aus Dun Hal. Wir schulden es ihren Familien, Dun Hal über das zu informieren, was hier vorgefallen ist.“ und bei sich dachte Luminor noch ‚Und hoffentlich schickt der König Verstärkung.‘, denn seit klar war, dass hier eine Katastrophe unbekannte Ausmasses und unbekannter Ursache geschehen war, hatte Luminor begonnen, sich Sorgen um die Sicherheit der einzigen Thronfolgerin zu machen. König Arlamerian Tiefenrune war krank. Nur wenige wussten, wie krank er wirklich war und Titus Luminor gehört zu diesen wenigen. Nichteinmal Florianne selbst kannte das volle Ausmass der Krankheit ihres Vaters. Würde Florianne auf dieser Reise etwas zustossen während der König starb, hätte das entweder einen endlosen Rosenkrieg zwischen den Adelshäusern zu Folge oder direkt Bürgerkrieg. Dun Hal war in den letzten Jahren schnell gewachsen und die sozialen Konflikte in der Hauptstadt und im Königreich wuchsen. Diese Reise, dieses Projekt sollte der letzte Schritt vor Floriannes Thronbesteigung sein. Eine Unternehmung, die ihre Regentschaft von anfang an prägt: Der Aufbau eine Netzerwerkes von magischen Monolithen, die es erlaubten, Nachrichten in einer Geschwindigkeit zu transportieren, die nie zuvor möglich gewesen war. Früher mussten Botschaften auf Papier mit Schiffen und Boten transpiert werden. Es dauerte Tage, Wochen und Monate, was sich nun in wenigen Stunden erreichen lies. Ein neues Zeitalter sollte anbrechen und es sollte für alle sichtbar sein, dass Florianne Nikea Tiefenrune selbst keine Mühen gescheut hatte, es aufzubauen. Und es war Titus‘ letzte Chance, seinen Zögling noch einmal eine Weile fast ganz für sich zu haben, bevor der Leben unter der Krone sie ihm nahm. Titus hatte diesen Beweggrund erst erkannt, als sie längst unterwegs gewesen waren. Und er hatte sehr gelacht, als die Einsicht über ihn kam. ‚Oh, was für Meister sind wir doch darin, unseren Herzen nicht zuzuhören! Aber unsere Herzen sind schlauer als wir denken. Wir täten alle gut daran, mehr mit dem Herzen zu denken.‘, hatte er in der ersten Woche der Reise in sein Notizbuch geschrieben. Aber nun, da Floriannes Wohl auf dem Spiel stand, fand er seine Einsicht nicht mehr ganz so erheiternd und kalte Angst erfasste sein Herz.

Florianne selbst hingegen hatte ihren alten Mentor schon vor der Abreise durchschaut. Sie liebte ihn. Im Grunde so sehr, wie ihren eigenen Vater, was auch keine Überraschung war. Ihrem Vater hatte es nie an Zuneigung zu seinem einzigen Kind gemangelt. Wann immer er konnte, liess er Florianne spüren, das sie zutiefst und bedingungslos geliebte wurde. Aber woran es König Arlamerian Tiefenrune mangelte, war Zeit. Und so wuchs Florianne zwar ohne Mutter, aber dafür mit zwei Väter auf. Und ihre Liebe zu Luminor hatte ihr schon in Kindertagen das Herz des grossen Universalgelehrten offenbart. Sie verstand ihn besser als er sich selbst. In der Tat hatte sie sehr gelacht, als sie eines Tages erkannt hatte, dass eine Sache gab, von der der grosse, grosse Titus Luminor – der das Verständnis der Welt und des Kosmos erweitert hatte – nichts verstand: Sein eigenes Herz. Leider war dies das einzige Herz, dass Florianne verstand. Ihr Weg zum Thron hatte von klein auf ihr Leben bestimmt und auch wenn sie ein fast schon geheiligtes Bedürfnis nach Gerechtigkeit in ihrem eigenen Herzen trug, so war ihr Mitgefühl stets fremd gewesen. Sie verstand die Menschen um sie herum, ihre Wünsche, Bedürfnisse und Ziele und sie war brillant darin, dieses Wissen in Pläne und Handlungen zu giessen, die Vieles für viele besser machten. Aber die Gefühle anderer Namensgeber blieben ihr immer eine fast unerreichbare Sache. Und sie wusste, dass Titus Luminor sich dieser Tatsache bewusst war und es als seine eigene Niederlage betrachtete, ihr diese eine Fähigkeit nicht beigebracht zu haben. So erkannte Florianne schon vor der Abreise, wie geschickt Titus gleich mehrere Fäden in diese Unternehmung als Ziele gesponnen hatte. Und es war ihr Recht, denn die Wahrheit war: Die Krone macht ihr genauso viel Angst, wie sie sie mit Stolz und Freude erfüllte. Und ein paar Monate auf See erschienen ihr im gleichen Masse willkommene Abwechslung und Bewährungsprobe.

„Dann richten wir den Monolithen auf.“ ergriff sie nach einigem Nachdenken und Schweigen im Raum das Wort. Und so geschah es. Luminor und die mitgereisten Ingeniuer.innen suchten am kommenden Tag einen geeigneten Ort auf der Insel, der Monolith wurde aus dem Frachtraum heraufgeholt und in den grossen Kutter geladen. Die Mannschaft war routiniert in diesen Aufgaben. Vier Dutzend weiterer Monolithe hatten sie auf ihrer Reise bereits aufgestellt und das Netzwerk lief wie geplant. Als sie den Monolithen in Betrieb nahmen, erfuhren sie, dass auf den Falkeninseln soweit alles in Ordnung war. Niemand hatte etwas bemerkt, was mit der Katastrophe von Jubani in Zusammenhang hätte stehen können. Allerdings war der Kontakt mit Dun Hal abgerissen, was aber niemanden benunruhigte. Dun Hal war weit entfernt und die Monolithen waren eine neue Technik. Vieleicht hatte es eine Form von Überlastung gegeben, sagten sich alle. Dann brachen die Basaltwelle und die Wolkenstein auf in Richtung Falkeninseln. Sie waren fast auf direktem Kurs nach Dun Hal und sowohl das Luftschiff, als auch das Seeschiff brauchten vor der Heimreise noch Frischwasser. Der Wind hatte die Richtung gewechselt und kam jetzt von Südosten, was ihnen sehr entgegenkam. Die Sonne fegt einige wenige, dicke weisse Wolke über den Himmel und die See warf eine glitzernde Gischt dazu auf. Ein Meer aus Edelsteinen unter einem blau-weissen Seidenhimmel. Die Mannschaft war erleichtert, diesen Ort zu verlassen und es erklangen wieder die üblichen Seefahrerinnenlieder.

Die Basalwelle, war ein formidables Schiff mit einer einzigartig fähigen Besatzung. Ich habe mich seit den katastrophalen Ereignissen der Nacht vom 9. auf den 10. März 2792 oft gefragt, ob wir etwas hätten anders machen können. Ob es eine Entscheidung gab, die den Verlauf der Ereignisse so weit geändert hätte, dass wir in dieser Nacht nicht die Basaltwelle und fast alle Seelen an Bord des Schiffes verloren hätten. Wie sooft bei solchen Fragen, die unseren Geist mit Gedanken der Schuld quälen, kann es keine Antwort geben, egal, wie oft mir Admiralin Jorun Goldlocke in den folgenden Jahren erklärt hat, es hätte keine taktische Alternative gegeben.

Aus der Enzyklopädia Okanea Luminor, zweite Ausgbe 2817 nach der Gründung von Dun Hal

Alle 4 Beiträge der Serie 'Buch I'

  1. Buch I – 1. Kapitel – Prolog
  2. Buch I – 2. Kapitel – Das Herz eines Königs
  3. Buch I – 3. Kapitel – Die Wächter
  4. Buch I – 4. Kapitel – Nackter Fels

Buch I – 3. Kapitel – Die Wächter

Königreich Van-Duhm
7. März 2792

Valerian stand hinter dem grossen, schweren, roten Vorgang. Er atmete einmal ein und aus. Hinter ihm erklang das langsam ruhiger werdende Treiben seiner Schauspieler und des Bühnenpersonals. Von hinter dem Vorhang drang der vertraut Klang des unruhigen Publikums. Er hatte immer noch Lampenfieber. Nach all den Jahren. Einatmen. Ausatmen. Er klappte den kleinen roten Stofffetzen hoch, der von hinten an den Vorhang genäht ist und näherte sich dem Loch im Vorhang, das er verborgen hat. Sein Blick fiel in den Zuschauerraum des Amphietheaters. Er liebt dieses Blick. Das Beobachten, ohne gesehen zu werden. Die Anmutung des gewaltigen Halbrunds. Rechts und Links neben der Bühne stehen zwei gewaltigen Statuen. Sie sind abstrakt gehalten und Valerian weiss aus Erfahrung, dass ihre gewaltige Präsenz verschwindet sobald nur noch die Bühne beleutet ist. Im Sternenlicht der warmen Sommernacht glitzern die silbernen Intarsien und Muster, die in sie eingelassen sind. Valerian hat das immer als gutes Zeichen gesehen und fragt sich einen Moment, warum er nicht schon eher ein Stück über diese Figuren geschrieben hat. Aber nun ist es ja geschrieben und heute Abend wird die Premiere sein. Er atmet aus und ist für einen Moment wirklich glücklich und entspannt.

Dann wander sein Blick über das Publikum. Das Theater ist gut gefüllt. Die Stimmung ist gut. Er hat inzwischen ein untrügliches Gespür dafür. Heiter, aber nicht so launig, wie vor einer Komödie. Gespannt, aber nicht so ernst wie vor einer der grossen Tragödien. Gehoben, aber nicht so elitär wie bei den langen Adlesstücken. Und das, obwohl der König anwesend ist. Sein Vater. Er kann ihn seinem Sitz sehen. Und in dem Moment treffen sich ihre Blicke. Ein wissendes Lächeln huscht über das Gesicht von König Dorum und Valerian sieht in seinen Augen einen Spiegel jener tiefen, bedingungslosen Liebe, die er selbst für seinen Vater empfindet. Und er strahlt breit hinter dem Vorhang. „Dann jetzt.“ denkt er bei sich.

Prinz Valerian Schwertblatt fährt sich mit den Händen über seine Hörner. Er schliesst das Guckloch und seine Hufe klackern auf den Brettern der Bühe als er sich zur Seite gibt, wo seine Regie-Assistenten und die Inszentierungmeisterin stehen. Er ist selbst für einen Boviden hochgewachsen, aber erheblich schlanker als viele, insbesondere als sein Vater. „Spindeldürr“, pflegte seine Mutter immer zu sagen. Er wusste immer, dass er nicht zum Kampf geeignet ist, nicht zu fordernden körperlichen Arbeit, die viele Boviden erfüllt. Aber er hatte ein starkes Herz und das führte ihn schon ans Theater. Er liebte immer ohne Zurückhaltung, ohne Rücksicht auf sich selbst, ohne Maß. Und er liebte es, diese Liebe weiterzugeben, die Schönheit und Macht der Liebe weiterzugeben. Das Theater erschien ihm schon als Kind genau der richtige Ort dafür. Die Menschen weinten und lachten, sie fieberten mit und wurden bewegt, im besten Fall tief in ihren Herzen. Seine Eltern hatten früh erkannt, dass sie sich für einen Thronfolger keinen besseren Charakter hätten wünschen, auch wenn Valerian die klassischen Stärken fehlten, die das Volk und die Adligen in einem Regenten suchten. Aber sich waren sich früh einig gewesen, dass es vielleicht einfach an der Zeit war für das Volk und die Adligen, ihre Ansichten über Regenten zu ändern. Und wer sollte eine solche Veränderung anstossen, wenn nicht wir?! Hatten sie sich gesagt. Valerian hatten sie in ihre Überlegungen nicht eingeschlossen. Sie liessen ihn einfach seinem Herzen folgen. Und sie taten gut daran, wie sich in den folgenden Jahren zeigte.

Aussenstehende behaupteten gerne, der junge Prinz hätte ein Talent, die richtigen Geschichten zu erzählen. Aber Valerians Eltern wussten es besser. Sein einziges Talent, war sein grossen Herz. Alles andere war auch für einen Prinzen harte Arbeit. Und nur wenige sahen, wie hart Valerian an seinen Stücken, seinen Choreographien, seinen Kompositionen arbeitet. Immer und immer wieder. Von Freunden und Mentoren forderte Valerian schon früh unnachgiebig Kritik. Er wusste, wohin er wollte und er kannte den Weg dahin: Übung, Revision, Iteration, immer und immer wieder. Aber in der Tat hatten gerade die letzten zwei Jahre gezeigt, dass sich seine harte Arbeit lohnt. Nach der Aufführung der Liebestragödie Roraro und Daria hatte Valerian ins Publikum geblickt und die Oberhäuter der beiden verfeindeten Adelshäuser der Kantarii und Bolorus mit Tränen in den Augen gesehen und gewusst, was folgen würde: Über den Verlauf von 6 Monaten hinweg hatte sich beiden Häuser angenähert und schliesslich die 3 Generationen anhaltende Fehde begraben. In der Nacht, nachdem der Friedenvertrag unterschrieben war, war sein Vater in sein Gemach gekommen und brach fast umgehend in einen Strom von Tränen aus, kaum, das die Tür geschlossen worden war. Valerian wusste, dass sein Vater jahrelang versucht hatte, die Fehde beizulegen, aber all seine diplomatische Raffinesse, all sein Werben und Drohen an den steinernen Herzen der Kantarii und Bolorus abgeprallt war. Sie hatten in der Nacht nicht mehr viel geredet. Es gab nicht viel zu bereden. Stolz und Erleichterung flossen ebenso sichtbar aus König Dorum heraus, wie die Tränen. Und so war es weitergangen. Valerian schrieb Stück und sie veränderten etwas; das Königreich, die Menschen, die Okanea, die Welt auf der sie lebten. Mal weniger, mal mehr. Mal weniger sichtbar und langsam, mal auf einen Schlag.

„Dann heute also Die Wächter„, dachte Valerian. In den letzten Jahren hatte Valerian die eigenen Ziele und Ansprüche immer weiter angehoben. Künstlerisch, handwerklich, politisch und seelisch. Die Wächter sollte mit dieser Entwicklung brechen. Es wäre falsch gewesen zu behaupten, dass Valerian eine Auszeit brauchte. Er war schlicht nicht glücklich, wenn er nicht an einem neuen Stück einer neuen Inszenierung arbeiten konnte. Aber er hatte im letzten Jahr gemerkt, dass er Fragen in sich trug, die nach Antworten suchten. Fragen auf die er vermutlich keine Antwort bekommen würde. Aber Fragen, denen er nichts desto trotz nachgeben musste. Der Mechanismus des Fragenstellens, die Reise, die die Suche nach Antworten ist, sollte Thema seines neuen Stückes werden. Die steinernen Wächter hier im Amphitheater waren schon immer an diesem Ort. Nieman kann sich an ihren Ursprung erinnern und Valerian hat das fasziniert, seit er seine Mutter das erste Mal fragte, was die Fiugren darstellen sollen. Wer hat diese gewaltigen Wächter geschaffen und was mag die Gedankewelt ihrer Schöpfer beflügelt haben? Wir werden es nicht erfahren. Wie so vieles. Und Leben bedeutete eben, aus fehlenden Antworten einen Sinn zu formen. Und das sollte heute Abend passieren. Er blickte zur Regie-Assitenten und zum Inszenierungsmeisterin. Beide nicken. Dann nickt Valerian und der Vorhang wird zur Seite gezogen, gibt dem Publikum den Blick auf die erste Szene frei und das Spiel nimmt seinen Lauf unter dem Licht der Sterne …

Eine Stunde später steht Valerian immer noch am gleichen Platz, gerade neben der Bühne, nur so eben und eben ausserhalb des Publikums und beobachtet, wie sich die Geschichte entfaltet und das Ensemble reibungslos im Spiel aufgeht. Gleich kommt Anadalias grosser Monolog. Sie sitzt alleine auf der Bühne, auf einem hölzernen Felsen und blickt über ein nächtliches Meer, dass nur in ihren Worten und der Vorstellungskraft des Publikums existiert.

„Hier am Strand sitze ich und beobachte das Spiel der Elemente.
Wasser schlägt auf Stein, gibt ihm Form, nimmt und gibt.
Er trotz der Brandung und doch ist ein Schicksal schon bestimmt.
Im Äonenglanz der Sterne ist ihr Weg bestimmt.
Doch wir sehen nur einen Teil des Reigen, während wir zwischen ihnen tanzen.
Wir sind nicht Wasser, noch Stein, noch Stern, noch Licht.
Wir sind ganz Herz.

Von Wasser und Licht umspielt.
Herz an Stein und Stein an Herz.“

Bei den letzten Worten setzt eine Veränderung in der Szene ein, die Valerian sofort spürt. Die silbernen Muster der Wächter neben der Bühne beginnen in einem hellen Grün zu leuchten. Kaum merklich. Die ist kein geplanter Bühneneffekt. Valerian wüsste nicht einmal, wie man soetwas erreichen sollte, selbst wenn man wollte. Es ist wunderschön, aber Valerian weiss intuitiv, dass etwas Ungeplantes im Begriff ist zu geschehen. Er schaut die Inszenierungmeisterin an, der das Leuchten ebenfalls bereits aufgefallen ist. Sie blickt fast entsetzt. Und als Valerian sie fragend anblickt, schüttelt sie nur den Kopf. Publikum und Ensemble scheinen das Leuchten noch nicht wirklich bemerkt zu haben. Doch nun wird es stärker, kräftiger, wie eine leuchtende Strömung, die durch die Steine fliesst. Und jetzt setzt auch Gemurmel im Publikim ein. Anadalias setzt ihren Monolog unbeirrt weiter fort. Sie ist ein wahrer Profi.

Herz an Stein und Stein an Herz.

Dann hallt ein Krachen durch das Amphitheater. Und von beiden Statuen fallen kleine Steine und Moose herab. Valerians Herz beginnt wie wild zu schlagen. Er fühlt sich, wie im Traum, wie in eines seiner Stücke versetzt. Ihn durchdringt eine fremdes Gefühle, dass nun alles möglich ist, dass die Grenzen von Wirklichkeit und Fiktion durchbrochen sind. Und Angst und Euphorie rasen in gleichen Teilen durch seinen Geist, seinen Körper. Dann heben beide Statuen völlig synchron ihre zuvor leicht gesenkten Köpfe und wenden sie in Richtung Anadalia. Im Publikum ertönen erstaunte Schreie. Für einen Moment fürchtet Valerian, dass gleich eine Panik einsetzt, aber nichts geschieht. Doch Valerian sieht, deutlich, dass die Wächter seines Vaters ihre Speere mit grösserer Konzentration halten. Für einen Moment gewinnt die Angst in ihm Überhand und er ist schon fast im Begriff, Anadalias von der Bühne zu holen, die jetzt ganz unverkennbar von den Statuen angeblickt wird. Aber die Inszenierungsmeisterin legt ihm seine Hand auf den Arm und Valerian hällt innen während Anadalias ihren Monolog beendet, nicht eine Nuance anders als in der Generalprobe.

„Wird dieses Herz je zu Stein? Schlägt in diesem Stein ein Herz?“

Dann blickt sie zu den Sternen über ihr, der Vorhang fällt und nimmt Valerian die Blick auf die Wächter. Tosender Applaus setzt ein, in den sich umgehend ein anderes Geräusch mischt. Wie die Schritte mythischer Riesen. Wie eine Lawine.

In Publikum wendet sich Torn zu ihrer Begleiterin Arlind, als sich die gewaltigen Statuen in Bewegung setzen und behutsam vor der ersten Reihe direkt vor die Bühne laufen und dort wieder erstarren. „Diesmal hat sich der Prinz wirklich selbst übertroffen“, sagt Torn, halb begeistert, halb skeptisch. „Hm-hm.“ antwortet Arlind. Dann schreiten beide Statuen synchron mit einem einzigen grossen Schritt auf die Bühne. Holz splittert unter dem Gewicht der vier Meter hohen, steinernen Giganten und Torn bemerkt erst jetzt, dass Arlinds Hand längst Griff ihres Kurzschwertes lag. „Nicht gut.“ sagt Torn, während ihre langen Hasir-Ohren, die zuvor ordentlich zusammengebunden herab lagen, um niemanden den Blick zu verderben, nun in grosser Achtsamkeit aufschwingen. „Wir sollten nach Valerian sehen.“ sagt sie noch im Aufstehen. Doch als sie sich zu Arlind umsieht, springt diese bereits mit einem gewaltigen Satz an ihr vorbei in Richtung Bühne, derweil das Publikum inzwischen in die entgegensetzte Richtung flieht. „Schön, dass wir mal wieder einer Meinung sind“ lässt Torn noch fallen, wohl wissend, dass ihre Freundin ihr nicht mehr zuhört. Dann sieht sie, wie eine Gestalt hinter dem Vorhang hervortritt. „Er wird doch nicht …“ murmelt sie zu sich selbst, während sie in grossen Sätzen über die Sitzreihen zu Bühne hastet. Dann stellt sich Valerian direkt in den Weg der beiden wandelnden Statue, reisst seine Arme hoch und beginnt noch einmal den eben verklungenen Monolog zu deklamieren. „Natürlich wird der doch.“, denkt Torn und sieht vor ihrem geistigen Auge ihren Freund schon unter einem gewaltigen Bein zermalmt oder von einer steinernen Hand zerquetscht. Gerade als sie – kurz nach Arlind – die Bühne erreicht, halten die beiden Kolosse tatsächlich inne und senken ihren Blick herab zu Valerian. Arlind die gerade noch im vollen Lauf war, fällt nun in einen vorsichtigen Schritt und bewegt sich in einem Bogen um die Statue herum auf Valerian zu. Torn tut – aus der Gewohnheit vieler gemeinsamer Kämpfe heraus – genau das Gleiche, nur auf der anderen Seite. Valerian verstummt, als sich Torn und Arlind ihm nähern. Die beiden Kämpferinnen behalten die kolossalen Statuen misstrauisch im Blick.

„Was ist hier passiert, geliebter Prinz?“ wendet sich Torn an Valerian. Der antwortet zunächst nicht, sondern starrt nur die Statuen an, Erstaunen und Begeisterung im Blick. „Ich weiss es nicht, meine liebe Torn. Aber ich werde es herausbekommen.“ Torn blickt zu Arlind herüber, welche die Augen verdreht. „Vielleicht gibt es doch Antworten auf alle Fragen …“, murmelt Valerian zu sich selbst und wendet nun selber den Blick von den Statue ab, zuerst zu seinen Freundinnen, dann hinauf zu den Sternen.

Das Erwachen der Wächter markiert gemeinsam mit der Entdeckung des Südkontinentes und der damit verbundenen Schrecken, den Übergang zu einer neuen Epoche, die wir heute „die Moderne“ nennen. Ironischer Weise haben uns beide Ereignisse mehr über die Vergangenheit unserer Welt erzählt als über unsere Zukunft. Aber es war ein überaus schmerzhafter Lernprozess, der uns bis zu diesem Punkt geführt hat, an dem wir jetzt stehen. Allerdings hätten wir im Angesicht eines Kontinentes und im Angesicht wandelnder Giganten aus Stein vielleicht etwas her auf die Idee kommen können, dass keine leichten Zeiten vor uns liegen.

Aus der Enzyklopädia Okanea Luminor, zweite Ausgbe 2817 nach der Gründung von Dun Hal

Alle 4 Beiträge der Serie 'Buch I'

  1. Buch I – 1. Kapitel – Prolog
  2. Buch I – 2. Kapitel – Das Herz eines Königs
  3. Buch I – 3. Kapitel – Die Wächter
  4. Buch I – 4. Kapitel – Nackter Fels

Buch I – 2. Kapitel – Das Herz eines Königs

Stadt und Königreich Dun Hal,
5. März 2792

„Danke, Nurah.“ waren die letzten Worte Königs Arlamerian Tiefenrune des IIIten. Nurah blickt ihm in die Augen und hielt seine rechte Hand. Seine Linke hatte sich um das Messer in seiner Brust geschlossen. Er lag auf seinem gewaltigen Bett als ein letzter Atemzug seinen Körper verliess und die Kraft in seinem Händedruck nachlies.

„Buch I – 2. Kapitel – Das Herz eines Königs“ weiterlesen

Buch I – 1. Kapitel – Prolog

Südmeer jenseits den 40ten Breitengrades,
1. Oktober 2787  anno fundamentum dun hal

In Thorleifs Welt gab es nur Rosa. Und die Webleinen, die hinauf zum Drachen führten. Die Sonne musste gerade im Osten aufgegangen sein und färbte die Wolken um ihn herum in jenes morgendliche warme Rosa, das Thorleif besonders mochte, denn es kündigte den Tag an.

„Buch I – 1. Kapitel – Prolog“ weiterlesen